In ‘Schöne neue Welt’ unterliegen selbst die Menschen einer industriellen Normung
Ich las diesen uralten Roman, weil ich mir vorgenommen habe, einige meiner Bildungslücken in Sachen Literatur und Dystopie zu schließen. Sicher wurde er schon hunderte Male rezensiert, analysiert und diente etlichen Schriftstellern und Drehbuchautoren als Vorlage für eigene Storys.
Die Zitate stammen aus einem Exemplar des Fischer Taschenbuch Verlages von 2001, in der 59. Auflage und der Übersetzung von Herberth E. Herlitschka.
ISBN: 3-596-20026-1
Das Zeitalter des Autors
Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie lange 1932 her ist, sehe man sich den Film Tarzan, der Affenmensch an, in dem Johnny Weissmüller zum ersten Mal den Urwaldmenschen gibt. Aldous Huxley reflektiert im Alter von 38 Jahren – sieben Jahre vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges – eine Utopie, die vorwegnimmt, was die moderne Gerüchteküche als Gegenstand chinesischer Gen-Forschung ausweist: das Klonen von Menschen.
Handlung
Da der Inhalt des Romans Schöne neue Welt in Wikipedia treffend zusammengefasst ist, erspare ich mir das Nacherzählen der Details. Stattdessen beschäftige ich mich mit den anerkennenden Lachern und Aha-Erlebnissen, die mir diese hervorragende Lektüre bescherte. Als Autor der Gegenwart ziehe ich Vergleiche. Denn: Wie jemand in der Hintergrund-Diskussion auf Wikipedia so zutreffend formulierte: »Eine Dystopie spiegelt immer das Weltbild des Schreibenden.«
Huxleys Vision werte ich als Persiflage auf eine fiktive Realität, in der die dumpfe Bequemlichkeit der Massen schließlich zum Sieg einer elitären Kaste von Weltkontrolleuren geführt hat.
Der Roman selbst beschreibt das ganz anders: Danach hatte ein Feldversuch auf Zypern bewiesen, dass Individualismus zum Kollaps der Gesellschaft führt. Zwanzigtausend Alphas, Angehörige der intellektuellen, der leitenden Kaste, durften selbstverwaltet leben. Wie erwartet, waren sie ihrer naturgegebenen Ellbogen-Mentalität erlegen, was letztendlich zu einem Bürgerkrieg und damit zum Scheitern des Experimentes geführt hatte.
Vorwort
1946 setzt Aldous Huxley vor seinen damals 14 Jahre bestehenden Roman eine Art Nachruf. Darin heißt es:
Die größten Triumphe der Propaganda wurden nicht durch Handeln, sondern durch Unterlassung erreicht. Groß ist die Wahrheit, größer aber, vom praktischen Gesichtspunkt, ist das Verschweigen der Wahrheit.
(Seite 17)
Die Thematik könnte aktueller nicht sein. Man schaue in die Gesichter unserer Regierungssprecher. Wer nicht weiß, worauf ich anspiele, sollte bei Jung und naiv stöbern und ihren Eifer auf sich wirken lassen.
Stichworte wie ›Lügenpresse‹, ›gekaufte Journalisten‹ und ›Atlantik Brücke‹ haben die Gesellschaft polarisiert. Fallen sie nicht allesamt ins Fach Verschwörungstheorie? Ein Begriff, der wie ein Mülleimerdeckel benutzt wird. Wer über das, was sich darunter abspielt, öffentlich spekuliert, macht sich günstigenfalls nur lächerlich.
Liest sich gut
Ich frage mich, was Huxley gemeint haben mochte, als er seinem literarischem Werk Mängel bescheinigte, die er später aus erfahrenerer Sicht gern ausgemerzt hätte. Es könnten die Passagen des dritten Kapitels sein, wo er zwei Handlungsstränge absatzweise miteinander verzahnt. Das behindert den Lesefluss ein wenig und verwirrt. Angenehmerweise setzt sich das nicht weiter fort.
Positiv fiel mir auf, wie liebenswert der Roman geschrieben ist. Huxleys trockener, wohlmeinender Humor trägt Züge von Sarkasmus, ohne verletzend zu werden. Das Apokalyptische mancher moderner Thriller bleibt aus. Vielleicht weil es noch gar nicht erfunden war? Wenn man von der erwähnten Passage des dritten Kapitels absieht, bleibt alles überschaubar, geordnet und bar jeder Hektik. Es wird nicht geschossen, es explodiert nichts und wenn Personen dennoch aus dem Leben scheiden, tun sie dies in aller Stille. Die Brisanz dieses Romans steckt zwischen den Zeilen.
Arbeiter sind Konsumenten
Warum ersann Huxley für das Utopia des Jahres 632 nach Ford die industrielle Produktion von Klonmenschen? War der Trend zur drohenden Überbevölkerung noch nicht erkennbar? Oder sollte diese Prämisse illustrieren, dass es in den Kreisen von Industrie und Politik Leute gab, die sich willfährige Arbeitskräfte wünschten? Solche, die für geringen Lohn bereit waren, jede noch so stumpfsinnige, gefährliche oder ungesunde Arbeit widerspruchslos, pünktlich und korrekt zu erledigen?
»Aber Epsilons«, bemerkte Päppler zu Recht, »brauchen keine Intelligenz«.
(Seite 31)
Wären vielleicht auch heute noch, für Aufgaben, für die keine Roboter zur Verfügung stehen, Arbeitnehmer willkommen, deren Lebensumstände sich derart verfahren und ökonomisch aussichtslos darstellen, dass sie bereit sind, unter absolut unannehmbaren Voraussetzungen zu arbeiten? (Umstände, die sie nicht akzeptieren müssten, wenn man ihnen beispielsweise ein bedingungsloses Grundeinkommen gewähren würde?)
Ihre angeborene Bestimmung friedvoll liebend, limitiert durch strenge Gesetze und Verhaltensregeln, benehmen sich die Erzeugnisse der Brut- und Normzentralen, die geklonten Menschen, wie ferngesteuert, stets bemüht, dem Wachstumsmotor Konsum wie einem Gott zu dienen.
Angesichts des Steuer- und Abgaben-Dickichts heutiger Tage, finde ich das verblüffend. Welchen Wert messen wir Dingen noch bei, die keinen Preis haben, auf die keinerlei Abgaben, Mieten, Gebühren oder Zölle erhoben werden? Wird die Praxis der Industrie, die Lebensdauer von Produkten absichtlich zu begrenzen, nicht stillschweigend toleriert? Gehört es nicht zum oberflächlichen Selbstverständnis der Wegwerfgesellschaft, dass der Absatz neuer Produkte künstlich angeheizt werden muss?
Beim Sport vergleichsweise preiswerte Utensilien wie Bälle und Schläger zu benutzen, gälte unter den Retortenmenschen als unseriös. Sie zögen es vor, ihre Freizeit auf einer der schicken und selbstverständlich kostenpflichtigen ›Rolltreppenkegelbahnen‹ oder beim ›elektromagnetischen Hindernis-Golf‹ zu verbringen; am ehesten vergleichbar mit modernen Spielhallen und ihren Münzautomaten für Force Feedback-Konsolen.
Wie hätte Huxleys Sarkasmus auf das Problem der Trinkwasser-Monopolisierung reagiert, wenn er diesen Teil unserer realen Utopie hätte erahnen können? Den Angehörigen aller brav arbeitenden und konsumierenden Kasten – im Roman sind das die Gammas, Deltas und Epsilons, aber auch für die meisten der besser gestellten, gebildeteren Alphas und Betas – wäre es vermutlich verwehrt, Wasser einfach aus der Leitung zu trinken. Dass die Bosse des Nestlé-Konzerns heute ihren Traum, Wasser sei kein Menschenrecht, sondern eine Ware, die man Kraft seiner politisch herbeigesponserten Lizenz gewinnbringend verkauft, Stück für Stück verwirklichen dürfen, wäre kein Anlass für sie, die Produkte dieses Konzerns zu boykottieren. Im Gegenteil: Genetisch normiert, auf bedingungslose Harmonie programmiert, wäre ihnen Protest nicht nur fremd, sondern auch ungemein lästig.
Früh-Sexualisierung?
Da es keine traditionellen Familien mehr gibt, die Halt und emotionale Wärme vermitteln könnten, werden die Menschen dazu angehalten, sich das körperliche Empfinden gegenseitig beizubringen; als Kompensation sozusagen. Deshalb zielt die Erziehung dieser visionären Zivilisation darauf ab, Schamgefühl oder das Bestehen auf Privatsphäre gar nicht erst aufkommen zu lassen. Schon im Alter von sieben Jahren müssen sie sich spielerisch mit ihrer Sexualität konfrontieren lassen, ob sie das nun wollen oder nicht.
Die Pflegerin zuckte die Achseln. „Nichts Besonderes. Der Kleine da scheint nur gar keine Lust zu haben, sich an den üblichen Liebesspielen zu beteiligen. Ist mir schon ein paarmal aufgefallen. Heute wieder. Gerade hat er zu brüllen angefangen …«
(Seite 46)
Als Erwachsene sind sie dann entsprechend konditioniert. Sex ist eine Freizeitbeschäftigung, die fast schon verpflichtenden Charakter hat. Wenn nötig, bringt man sich mit Drogen in Stimmung oder im Duft- und Fühlkino. Wer seine Partner nicht häufig genug wechselt, macht sich lächerlich. (Jeder ist seines Nächsten Eigentum).
»Die Tagesration Soma«, antwortete Sigmund ein wenig undeutlich, da er gerade eines von Benitos Sexualhormonkaugummis kaute. »Sie bekommen sie bei Arbeitsschluss. Vier Halbgrammtabletten. An Sonnabenden sechs.«
(Seite 166)
Drogen gegen den Frust
Doch selbst in Huxleys schöner neuer Welt menschelts. Gelegentlich wird man von Kummer, Stress, Eifersucht oder Hass befallen. Solch unangemessenen Gefühlen begegnet man schon im ersten Anflug mit der passenden Dosis Soma, einer staatlich subventionierten Droge, die dem Vernehmen nach, weitgehend frei von Nachwirkungen ist. Von Ärzten wird sie sogar empfohlen, vor allem aber von der herrschenden Kaste, die dafür zu sorgen hat, dass in das Räderwerk des wirtschaftlichen Fortschritts niemals Sand gerät.
Dank hoch entwickelter Medizin bleibt man äußerlich wie innerlich jung, beendet sein Leben mit sechzig Jahren in einem ausgedehnten Soma-Rausch, widerspruchslos und ohne Bedarf an Anteilnahme. Ein ›Recht auf Unglück‹ gibt es ohnehin nicht. – Wenn das keine Dystopie ist …?
„Heutzutage – sehen Sie, das ist wahrer Fortschritt! – arbeiten die Greise, erfreuen sich ihrer Geschlechtskraft, sind immer beschäftigt, das Vergnügen läßt ihnen keine Muße, keinen freien Augenblick, um sich hinzusetzen und nachzudenken.”
(Seite 68)
Alltag und Bildung
Keineswegs haben sich die Bewohner in Huxleys Vision mit den emotionalen Abgründen des Daseins abzugeben. Mit finanziellen Nöten oder Krankheiten etwa, die ja technologisch eliminiert sind (wie auch immer das geschehen könnte), nicht mit philosophischen Fragen und vor allem nicht mit Politik. Damit schon gar nicht.
Belletristik wäre ohnehin verpönt, verboten sogar, Wissen lediglich auf das begrenzt, was die Fachleute der einzelnen technisch-wissenschaftlichen Disziplinen zur Ausübung ihrer schmalen Verantwortungsbereiche unbedingt wissen müssen. (Das Need-to-Know-Prinzip)
Ein unmündiges Volk also. Dank der allgegenwärtigen Werbepropaganda, von speziell dafür geschulten ›Gefühlstechnikern‹ mit passenden Emotionen garniert, erleben sie die Errungenschaften ihrer Zivilisation mit Stolz und glückseliger Überzeugung. Die Alternativen würden sie nicht kennenlernen wollen, selbst wenn sie von ihnen wüssten.
Individualisten
Manche Protagonisten des Romans fallen natürlich aus der Rolle. Gedanklich gehen sie ihre eigenen Wege, glauben beispielsweise an die Trennung von Körper und Seele, sondern sich ab oder gehen unerwünschten Wissenschaften nach. Sie als gefährliche Spinner zu diffamieren, erübrigt sich. Niemand wird sich ihre Argumente durch den Kopf gehen lassen, wird sie weder pauschal noch detailliert widerlegen oder bestätigen müssen, sofern er dazu bereit und in der Lage wäre. Denn: Umtriebige Individualisten, solche, die sich auch in einer ›Wiederaufnormungsanstalt‹ nicht bekehren lassen würden, schickt man kurzerhand ins Exil. Dort sind sie unter ihresgleichen: Unter Querdenkern, die alles, was sie erleben, erfahren und tun, nach Herzenslust laut hinterfragen und nach Antworten suchen dürfen.
Wie hätte Huxley sie heute genannt? Verschwörungstheoretiker vielleicht?
»Herr Päppler, und Sie werden feststellen, dass es keinen ärgeren Frevel gibt, als unkonventionelles Verhalten. Unkonventionalität bedroht nicht nur das Leben des Einzelnen, sie ist eine Bedrohung für die Gesellschaft.”
(S 151)
Der Held
Dem sogenannten »Wilden«, dem eigentlichen Star in Huxleys Roman, bleibt die Verbannung erspart; gegen seinen Willen allerdings. Als Sohn des Direktors einer der weltweit vorhandenen Brut- und Aufzuchtzentren und dessen verflossener Bekanntschaft, die nach der ungewollten Empfängnis vom Schicksal zu einer Zivilisations-Aussteigerin gemacht worden war, gilt er als derart exotisch, dass er der Öffentlichkeit erhalten bleiben soll; zur Belustigung der Massen und als kurioses Untersuchungsobjekt für die Funktionäre des Weltaufsichtsrates.
Denn in der beschriebenen Gesellschaft wird ja niemand auf natürliche Weise geboren. Kinder auszutragen, beziehungsweise jemanden als leibliche Mutter benennen zu können, gilt unter den Gleichgesichtigen in Huxleys Roman als unvorstellbar obszön; vor Zeugen der Vaterschaft bezichtigt zu werden, ist ein Skandal; absurd in seiner tiefgreifenden Peinlichkeit, dem das Publikum nur mit überdrehtem Gelächter begegnen kann. Für den betroffenen Direktor Grund genug, unverzüglich von seinem Posten zurückzutreten.
Er trat ein, sah sich auf der Schwelle einen Augenblick zögernd um, dann durcheilte er mit seinen Mokassins lautlos den Saal, fiel vor dem Direktor auf die Knie und sagte mit klarer Stimme: »Mein Vater!«
(Seite 154)
Inkompatibel
Der ›Wilde‹ kommt mit der Gesellschaft, in die er umgesiedelt wurde und die ihm seine Mutter von Kindheit an wie den wahrhaftigen Himmel gepriesen hatte, in keiner Weise klar. Sein eigenes Lebenskonzept zu entwickeln, autark zu leben, lässt man ihn nicht. Ursprünglich als Indianer sozialisiert, gefangen in seiner konservativen Vorstellung von Moral und Ehre – was ihm die Liebe zu seiner Angebeteten unmöglich macht –, und täglich begafft von dem sensationslüsternen Volk vergnügungssüchtiger Wohlstands-Junkies, setzt er seinem jungen Leben ein einsames und stilles Ende.
»Es würfe die ganze Gesellschaftsordnung über den Haufen, wenn die Menschen auf eigne Faust zu handeln begännen.«
(Seite 233)