Das Jesus Video

Ein waschechtes Paradoxon

Im staubigen Niemandsland zwischen Tel Aviv und Jerusalem, in sengender Sonne, nimmt der junge Amerikaner Stephen Foxx als freiwilliger Helfer an einem Ausgrabungsprojekt teil. Als cleverer Softwarefachmann war er schon mit neunzehn Jahren zu Geld gekommen. Er kann es sich leisten ausgedehnte Urlaube mit schlecht bezahlten Tätigkeiten zu verbringen, nur weil sie ihn interessieren und ihm Spaß bereiten.

In dem ihm zugewiesenen Areal, einem ehemaligen Friedhof, in einer Bodenschicht, deren Bestandteile gut zweitausend Jahre alt sind, entdeckt er etwas, das er zunächst für einen Scherz seiner Kollegen hält. Neben dem freigelegten Skelett eines Verstorbenen findet er in einem Leinensäckchen ein waschechtes Paradoxon vor: die Bedienungsanleitung zu einer SONY-Videokamera. Doch ein Scherz ist das nicht. Die chemische Analyse des gefundenen Materials bestätigt das angenommene Alter zweifelsfrei.

Da die ausgegrabenen Gebeine außerdem medizinische Eingriffe aufweisen, die zu Lebzeiten des Jesus von Nazareth nicht nur unbekannt, sondern schlicht unmöglich durchzuführen waren, und da sich das Kamerasystem zu dem die Gebrauchsanweisung gehört, wie man bald herausfindet, noch gar nicht am Markt, sondern erst in der Planungsphase befindet, herrscht unter den handelnden Personen rasch Einigkeit darüber, dass es sich bei dem Aufgefundenen um nichts anderes als einen Zeittouristen handeln kann. Einen, der offensichtlich keine Rückfahrkarte besessen hatte.

Der Verdacht liegt nahe, dass er die zur Gebrauchsanweisung passende Kamera mit sich geführt haben könnte. Doch wo befindet sie sich? Und was hat er damit gefilmt? Jesus in Aktion? Hat er versucht, seine Aufzeichnungen für die Nachwelt zu hinterlegen?

Im Visier der Glaubenskongregation

Das Ausgrabungsprojekt wird von dem augenscheinlich wohlhabenden Unternehmer John Kaun finanziert, der schon kurz nach Bekanntwerden des Fundes mit allerlei Equipment und bewaffneten Personal aufkreuzt, um sich der Angelegenheit persönlich zu widmen. Er wittert das Geschäft seines Lebens, den Jackpot sozusagen. Er fragt sich, wie viel die katholische Kirche bereit wäre, in ein Video über Jesus Christus zu investieren, das entweder beweist, dass er nie gelebt, zumindest aber anders agiert hat, als es in der Bibel überliefert ist.

Augenblicklich beginnt eine äußerst spannende Hetzjagd zwischen dem geldgierigen Medienmogul John Kaun, dem ehrgeizigen Studenten Stephen Foxx, der sich als Entdecker des Fundes ausgebootet fühlt, sowie Agenten der Glaubenskongregation, den Wächtern der katholischen Wahrheit. Alle suchen in großer Eile und ohne Neigung zu Kompromissen nach der Videokamera, den Aufzeichnungen darauf und den Wahrheiten, die sie offenbaren könnten.

Von den Profis lernen

Seit ich meinen ersten eigenen Roman veröffentlicht habe, betrachte ich Literatur mit anderen Augen. Ich lese, um von den Profis der Branche zu lernen. Der Autor des hier beschriebenen Titels ist zweifelsohne einer: Andreas Eschbach. Das Jesus Video ließt sich für mich wie das Anschauungsmaterial zu einem Ratgeber mit dem Titel: Wie schreibt man einen Thriller, der ohne Mord und Totschlag auskommt?

Cliffhanger

Was mir gleich auffiel, als ich auf Amazon in den Rezessionen zu diesem Roman stöberte, war die Kritik an den reichlich auftretenden Cliffhangern. Auch mein erster Lektor hatte mir davon abgeraten. Das reißt den Leser von der handelnden Figur weg, meinte er. Andreas Eschbach sah das offenbar anders und ich gebe ihm Recht. Er springt von Figur zu Figur und beschreibt den Plotverlauf parallel aus verschiedenen Blickwinkeln. Das mag anfänglich irritieren, aber man gewöhnt sich daran, weil es die Story angenehm beschleunigt. Außerdem transportiert diese Vorgehensweise Eschbachs trockenen Humor und trägt sehr zu seinen exzellenten Charakterbeschreibungen bei, von denen diese Story lebt.

Eine Story wie ein Wasserrad

Das »Jesus Video« ist eine Story wie ein Wasserrad, das seinen Inhalt kontinuierlich an die nächste Schaufel weitergibt. Ein Detail greift ins andere. Und da der Leser nach klassischer Thriller-Manier immer ein klein wenig mehr weiß als die Protagonisten, entsteht die Spannung durch die eigenen Vorahnungen, Fragen und Befürchtungen, die man beim aufmerksamen Lesen entwickelt. Der Humor entsteht durch das Geschick des Autors dem Leser dann Informationen vorzuenthalten, wenn er sich überraschen lassen soll. Beispielsweise, wenn man Stephen Foxx und seine attraktive Freundin Judith Mendez an die Männer mit den Maschinengewehren verloren glaubt, weil sie sich in einem offenen Zelt schlecht verstecken können und es dennoch schaffen. Dieser Roman funktioniert wie ein Film. Kopfkino eben.

Die Zeitreise

Besonders gut gefallen hat mir, wie Andreas Eschbach mit dem Thema Zeitreise umgegangen ist. In der Geschichte wohnt man den Überlegungen des deutschen Schriftstellers Peter Eisenhardt bei – vielleicht das Alter Ego des Autors – den sich der Medienmogul als Berater hinzuzieht, um von dessen außergewöhnlicher Fantasie und Fähigkeit quer zu denken profitieren zu können.

Der Schriftsteller führt einige logische Argumente an, weshalb Zeitreisen im Grunde sehr unwahrscheinlich sind. Das Denkmodell paralleler Universen, die in der Theorie helfen sollen Paradoxa in geschlossenen Zeitschleifen zu umgehen, erwähnt Eschbach nicht, absichtlich vermutlich, denn das hätte die Story aus dem Ruder laufen lassen.

Stattdessen deutet die Romanfigur Peter Eisenhardt als Erklärung ungeklärte paranormale Phänomene an. In Michael Talbots Schachbuch “Das holografische Universum” sind derartige Launen der Natur zusammengetragen worden. Menschen beispielsweise, die spurlos und ungewollt in Dimensionsblasen verschwunden sind, oder wie es in Eschbachs Thriller formuliert wird, “in den Gletscherspalten der Zeit”. Wer weiß, vielleicht nahm sich Mark Twain einst ein ähnliches Phänomen zur Basis seines Romans “Ein Yankee am Hofe König Artus‘”.

Wie war das mit Jesus?

Den Hut ziehe ich auch davor, dass Andreas Eschbach seine kritische Einstellung gegenüber Religionen und Sekten nicht allzu sehr verklausuliert. Dabei verliert er nie den Respekt vor denjenigen, die seine Vorbehalte nicht teilen würden. Im Gegenteil, den Papst nimmt er wohlweislich aus der Verantwortung und auch der Schilderung, was man auf dem Jesus-Video denn nun tatsächlich sieht, geht er nicht aus dem Weg, sondern überrascht mit einer wohlwollenden und ausgesprochen nachvollziehbaren Beschreibung.

Kuriositäten

Wie eine Zeitreise kommt einem auch der Roman selbst vor. Er ist 1998 verfasst. Das beschriebene Kamerasystem von SONY ist in der Zeit, in der der Roman spielt, noch gar nicht entwickelt, heute aber technisch längst überholt. Und John Kaun der selbstverliebte Medienmogul nimmt sich in Acht nicht den gleichen Fehler zu machen wie ein längst vergessener Immobilientycoon aus den achziger Jahren namens Donald Trump, der von den Medien einst als Wirtschaftswunderknabe gelobt aber wegen seines Größenwahns gescheitert war und von dem kaum noch jemand redet. 😉