Cover Cyberspace

Erzählungen

Andreas Eschbachs Geschichten sind so schön aufgeräumt. Die jedenfalls, die ich gelesen habe. Alles steht an seinem Platz, wird penibel genau beschrieben, einen Tick zu penibel manchmal, was aber den Vorteil hat, dass man nie die Orientierung verliert oder gar rätseln müsste, worauf der Autor eigentlich hinaus möchte.

William Gibson geht völlig anders vor. Ein guter Freund hatte mir den Band mit Kurzgeschichten schon vor etlichen Jahren einmal in gedruckter Form geliehen. Nun wollte ich ihn ein zweites Mal in dem Bewusstsein lesen, dass es angeblich Gibson war, auf den der Begriff Cyber Space zurückgeht. Ein Autor offenbar, der auch die Genres Steam Punk, Dystopie und Science Fiction entscheidend mit geprägt hat.

Die Zitate stammen aus dem eBook des Wilhelm Heyne Verlags von 2015.
ISBN 978-3-641-11638-5

Johnny Mnemonic

In Johnny Mnemonic geht es ohne Umschweife zur Sache. Man wird einfach in eine punkige Underground-Wirklichkeit geworfen und darf die dahinter stehende Weltordnung nur in kleinen Portionen erkunden. Dafür ist man so dicht dran, dass man den feuchten Mief der überfüllten Kneipe mit dem Namen Drome auf der Haut zu spüren glaubt. Genau wie der Protagonist bekommt man sogleich Respekt vor den drahtig-schlanken zwei Meter großen Magnetic Dog Sisters, die an der Tür kontrollieren, wer rein und wer rausgeht. Die Gesellschaft besteht aus Typen, die sich – in welchen Hinterhof High-Tech-Schuppen auch immer – allerlei abgefahrene Elektronik, Gen- und Kampftechnik haben implantieren lassen. Das scheint dort ganz normal zu sein.

Johnny beispielsweise, läuft mit einem leistungsfähigen, hoch verschlüsselten Datenspeicher im Kopf herum, dessen Inhalt den mächtigen Yakuza gehört und einiges wert zu sein scheint. Den Inhalt kennt er selbst nicht. Der Einzige, der das Passwort weiß, stirbt kurz nach dem Lokalbesuch. Seine neue Bekanntschaft, die wehrhafte Molly Millions, hilft ihm dabei, es dennoch herauszufinden:

›Sie trug eine Lederhose in der Farbe von getrocknetem Blut.‹

Endzeitstimmung herrscht zwar nicht, aber zweifellos ist es eine dystopische Welt, in der sich Johnny zurechtfindet:

›Die Betonwände waren mit Schichten von Graffiti bedeckt, die sich in den Jahren zu einem einzigen Metagekritzel der Wut und Ohnmacht verwoben hatten.‹

Als Johnny über einige Umwege erfährt, worum es sich bei den Daten, die er mit sich führt, handelt, wird ihm bewusst, dass die Yakuza auf der Suche nach ihm sein dürfte und vermutlich alle Register ziehen wird, um ihn zu finden. Um dem zu entgehen, sichert er sich mit Kopien ab und taucht in einer seltsamen Randgruppe der urbanen Zivilisation unter, den Lo Teks, in einer Sphäre über der Stadt, die man, so schätze ich, definitiv lieben lernen muss, um es dort auszuhalten. 😉 

Das Gernsback-Kontiuum

Über den tieferen Sinn der Story grüble ich noch. Aber so viel kann ich sagen: Ich fühlte mich darin nicht fremd. Es geht um einen amerikanischen Fotografen, der den Auftrag erhält, für ein englisches Verlagsprojekt den Rest Architektur zu fotografieren, den man zur ›Amerikanischen Stromlinien-Moderne‹ zählt. Der Titel des Projektes: Die windschlüpfrige Futuropolis: Das Morgen, dass nie kam.

Allerdings steigert er sich bald so sehr in diese Aufgabe hinein, dass ihm seine Fantasie realistisch anmutende Tagträume von eben diesem Futuropolis beschert, einer Art Steam-Punk-Vorahnung. Er macht sich deshalb Sorgen um seine geistige Verfassung. Sein Freund Kihn, der beruflich mit der Recherche von UFO-Sichtungen zu tun hat, beruhigt ihn. Aus dessen Sicht würde er lediglich Fällen von semiotischem Spuk aufsitzen, harmlosen Halluzinationen, die sich aus den unterbewusst gespeicherten Eindrücken unserer Medien- Film- und Fantasy-Kultur speisen und nur vorübergehender Natur sind.

Fragmente einer Hologramm-Rose

Gibsons Stil ist definitiv literarisch, aber leider oft auch kryptisch, nur zum Teil transparent, mit Stellen, die man im Lesefluss nicht aufzulösen imstande ist und sie deshalb leider fallen lässt. Ich zumindest. Andererseits bietet er Formulierungen an, die mich ihrer Plastizität wegen geradezu schwärmen lassen:

›Der Regen war sauer und ätzend, fast pissgelb.‹

Das Fragment einer Hologramm-Rose ist definitiv eine Cyber Space Story. Ein dystopisches Endzeit-Szenario.

›Das Antibiotikum war sein doppeltes Gewicht an Kokain wert. ›

Es geht um sogenannte ASP-Decks, mit deren Hilfe man wie in einem seriell ablaufenden Video nicht nur Bilder, sondern auch Ton, Geruch, Geschmack und die damit verbundenen Empfindungen aufgezeichneter Erlebnisse beliebiger Personen nacherleben kann.

›So etwas haute rein in Judys Jungle, wo eine Pistole leichter zu haben war als ein heißes Bad.‹

Das ist nicht nur ein Geschäft für die Hersteller dieser Geräte, sondern ganz besonders auch für jeden, der passenden Content dafür erzeugen kann. Denn es liegt ja auf der Hand, wie viele nachvollziehbare, aber auch abartige Sehnsüchte damit bedient werden könnten.

Für mich hat die Geschichte kein richtiges Ende. Ich würde sie eher als eine Situationsstudie bezeichnen. Es könnten Momentaufnahmen aus einer fernen Zeit sein. Als würden wir, ohne die Zusammenhänge zu kennen, Personen an einem imaginären Ort begleiten, und ihre Hoffnungen und Sehnsüchte miterleben dürfen. Um dann, wenn das Band zu Ende ist, ganz ähnlich wie bei einem Videorecorder zu entscheiden, ob wir zurückspulen oder uns eine neue Kassette ansehen möchten.

›Eine Wolke von Fliegen stob zornig auf und ließ sich wieder nieder, ohne ihn zu beachten.‹

Wahlverwandte

Eine Geschichte wie eine Schachtel Pralinen: Zartbitter, süß, mit einem Schuss abgelagertem Bourbon. Man hat das Gefühl, Gibson hätte, als er das schrieb, statt der üblichen zerrissenen Jeans einen feinen Maßanzug getragen, schwarz selbstverständlich und teure Schuhe aus Leder dazu, statt der obligatorischen Sneakers. Und dass, obwohl sein Protagonist Coretti keinen Sinn für diesen Aufwand gehabt hätte:

›Mode war eine Sprache, in der Coretti stotterte.‹

Coretti kommt eher zögerlich und ungeschickt mit einer Frau ins Gespräch die ihn fasziniert, obwohl das, was sie ausstrahlt, zumindest kein Liebreiz zu sein scheint.

›»Antionette«, erwiderte die Frau in Grün und neigte den Kopf. Sie trank aus, tat so, als würde sie auf die Uhr schauen, bedankte sich viel zu freundlich für den Drink und ging.‹

Er verfolgt die Dame auf ihren nächtlichen Streifzügen durch die Bars der Stadt. Mehrere Nächte lang. Offenbar, ohne zu wissen, warum. Das wird ihm zur zwanghaften Manie. Scheinbar nimmt sie ihn dabei gar nicht wahr, zumindest beachtet sie ihn nicht. Ganz nebenbei entdeckt Coretti aber, dass die Frau über paranormale Fähigkeiten verfügt. Bei jedem Gang, von einer Bar in die nächste, verwandelt sie sich. An ein Chamäleon erinnernd, wechselt sie dabei nicht nur ihre Gestalt, sondern auch ihr Wesen, wird zu völlig unterschiedlichen Personen. Wie sich herausstellt, gehört sie einer fremden Spezies an, ist ein Exemplar von vielen, die nur den Anschein erwecken, menschlich zu sein.

Als Coretti schließlich zu einem von ihnen wird, läuft mir ein angenehm gruseliger Schauer über den Rücken, so, als hätte ich eine fein auf diesen Effekt hin abgestimmte Prise H.P. Lovecraft gelesen.

Hinterwäldler

Es ist eine von diesen Storys, die ich erst einmal ganz durchlesen müsste, um eine ungefähre Vorstellung davon zu bekommen, wie die Welt beschaffen ist, in der sie spielt; um dann von vorne anzufangen. Gibson will mich selbst herausfinden lassen, wo ich mich befinde und warum. Genau das ist es, was einem viele Schreibratgeber empfehlen. Ist das tatsächlich immer so toll? Aber natürlich handelt es sich beim vorliegenden Buch nicht um eine Sammlung von Romanen, sondern von Kurzgeschichten. Prosa, die auf umschweifende Erklärungen verzichten muss, und darf.

Es geht – man möge mich korrigieren, falls ich falsch liege, – um eine stationäre Raumstation in einer sehr weiten Umlaufbahn um die Erde. Sie befindet sich an einer Stelle, an der einst eine Kosmonautin, die legendäre Olga Towjewski, durch ein Wurmloch in den offenen Weltraum verloren gegangen ist. Ein Stargate vielleicht, der Zugang zu einer Einstein-Rosen-Brücke, ein Dimensionstor, aus dem immer wieder mal Raumschiffe zurückkehren, – welchem glücklichen Umstand das auch immer zu verdanken ist. Deren Besatzungen, – meist einzelne Raumfahrer/innen –, sollen psychologisch betreut werden. Denn wenn sie so eine Reise überlebt haben, liegt es meist daran, dass sie der Versuchung widerstehen konnten, Selbstmord zu begehen. Wie es scheint, ist das, was sie jenseits des Wurmlochs erleben müssen, derart schwer zu verdauen, dass sie nur von sogenannten Surrogaten empfangen werden sollten, speziell dafür ausgebildeten Fachleuten, die gezielt mit dem Einsatz spezieller Drogen arbeiten. Wieder einmal kommt jede Hilfe zu spät.

Roter Stern, Winterorbit

Die Kosmograd ist eine längst veraltete Raumstation der UDSSR. Im Gegensatz zu den Amerikanern hatten es die Russen geschafft, bemannt auf dem Mars zu landen. Besagter Mission hatte der alternde Korolew angehört. Er ist ein im Orbit lebender Pensionär. Ein Unfall und Jahrzehnte in Schwerelosigkeit haben seinen Körper so entkräftet, dass er auf der Erde nicht mehr überleben könnte.

Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Besatzung ahnt es und mit dem entsprechenden Befehl aus dem Kontrollzentrum wird es zur grausigen Gewissheit: Die Kosmograd soll aufgegeben werden. Es kommt zum Streik, zur Meuterei sogar, doch letztendlich wird die Station von ihrer Besatzung verlassen. Nur von Korolew nicht.

›Er verbrachte unzählige Stunden vor dem Bildschirm und sichtete die Videobänder der Museumsbibliothek. Eine passende Beschäftigung für den letzten Menschen im All, der einst der erste Mensch auf dem Mars gewesen war.‹

Er weiß, dass er beim Sturz der Raumstation auf die Erde, mit ihr verglühen wird. Nicht sofort, aber bald. Doch dann passiert etwas, womit er nicht rechnet, — auch der Leser nicht. 😉

New Rose Hotel

Irgendwie ergreifend. Atemberaubend. Und das, ohne einen einzigen Dialog. Ich staune und lerne. Doch was heißt ohne Dialog? Die ganze Erzählung ist ein Dialog. Ein Dialog mit Sanji, – in ihrer Abwesenheit. Wo ist sie? Diese Frau, die ihn zutiefst beeindruckt und mitgerissen hat. Deren Duft noch an den Sachen haftet, die ihm von ihr geblieben sind. Hätte er sie da bloß nicht mit reingezogen. Na ja, —. Fox war es, der das wollte. Der ist nun tot. Und sie? Hatte sie einschätzen können, worauf sie sich einließ? Es gibt nichts geschenkt im Leben. Jetzt, nach all dem was passiert ist, wirkt sie irgendwie undurchsichtig auf ihn. Er ist hin und her gerissen. Sein Herz weint, während er sich diese Frage wieder und wieder stellt: War sie loyal zu ihm, oder war sie es nicht? Und war es überhaupt Liebe?

Egal. Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Über seinem Versteck kreist ein Hubschrauber. Jeden Moment werden ihn dessen Wärmebildkameras erfasst haben. Und er? Er schwitzt vor Angst. Das Schicksal zählt die letzten Sekunden vor dem Showdown herunter. Sanji, hattest du ein Gewissen?

Der Wintermarkt

Was William Gibson hier macht, ist ein Portfolio. Ein Sammelsurium flüchtiger Skizzen. Einfälle, Stimmungen, Visionen. Ich denke nicht, dass er erwartet, man würde alles verstehen, was er mit seinen Erzählungen ausdrücken will, und dass man den tieferen Sinn erfasst, falls es den gibt. Manches bietet den Interpretationsspielraum eines abstrakten Gemäldes. So auch diese Story. Worum geht es? Wer ist Lise? Ein weiblicher Android? Ein Cyborg? Was hab ich mir unter einem Außenskelett vorzustellen? Ein Exoskelett? Eines, das man trotz ihrer offenherzigen Garderobe erst auf den zweiten Blick bemerkt? Nun: So viel ist klar, sie ist ein kaputter Typ. Drogensüchtig. Sie weiß, dass ihre Tage gezählt sind. Etwa so, als hätte sie Krebs im Endstadium. Aber sie weiß auch, dass ihr die Technologie theoretisch die Möglichkeit böte, über ihre Tage hinaus zu existieren. Als lebendes Bewusstsein. Doch sicher ist das nicht. Bis dato scheint es noch niemand ausprobiert zu haben. Lisa wagt es trotzdem. Es ist ihre einzige Chance. Und Casey, der ahnungslose Cutter? Er hilft ihr dabei.

Luftkampf

Deke ist ein Kleinkrimineller. Ein junger Kerl, der ein klein wenig vor sich selber flieht. Er hat Hunger, ist müde und blank wie ‘ne Kirchenmaus.

›Aus Langeweile, die ihm wie ein Schatten folgte, steckte er beiläufig den Kopf in den Raum.‹

SPADS & FOKKERS heißt das Spiel, dass man allabendlich im Jackman’s über einem ausgedienten Billardtisch austrägt. Man gegen Mann. Das Kriegsspiel hat vermutlich einst auf Computern und Konsolen gedient. Inzwischen kann man, für alle Umherstehenden sichtbar, den holografischen 3D-Raum samt seiner beweglichen Objekte per Gedankenkraft steuern. Purer Cyberspace also. In so einer Zeit braucht die Justiz keine Fußfesseln. Sie hat effektivere Mittel zur Hand: Hirnsperren. Deke wurde aus Washington D.C verbannt. Wenn er trotzdem hingeht, windet er sich vor Angstkrämpfen. Seiner neuen Freundin Nance geht es ähnlich. Ihre Hirnsperre löst schreckliche Symptome aus, sobald sie von jemandem berührt wird. Der psychologische Keuschheitsgürtel ist das Geschenk ihrer Eltern, die Wert darauf legen, dass sie sich ausschließlich ihrem Studium widmet. Deke respektiert das. Doch eines Tages sagt sie:

»Ich hab ‘ne Doppeldosis Hype ergattert.«

Die eine Hälfte davon hilft ihr, ihr Examensprojekt überzeugend zu präsentieren, die andere versteckt sie. Sie spart sich das Amphetamin für ein Vorstellungsgespräch auf, dass ihr zum Einstieg in eine lukrative Arbeitswelt verhelfen soll.

Doch Deke hat andere Pläne damit. Als ihm der entscheidende Turnierkampf gegen den lokalen Luftkampf-Star Tiny Montgomery bevorsteht, bei dem es nicht nur um Ehre, sondern auch um die beträchtliche Siegesprämie geht, zwingt er Nance das Dope rauszurücken, indem er ihr absichtlich mit Streicheleinheiten zu Leibe rückt.

Deke gewinnt den Luftkampf über dem Billardtisch, was eine lokale Sensation ist. Aber niemand will seinen Triumph mit ihm teilen.

Chrome brennt

›Draußen in den Malls und an den Plazas flatterten sich die Nachtfalter an den Neonlampen zu Tode, aber in Bobbys Loft kam das einzige Licht von einem Monitor und den grünen und roten LEDs an der Vorderseite des Matrixsimulators.‹

Es dauerte bis ich schließlich am Ende der Story halbwegs sicher sein konnte: Chrom steht sowohl für ein Puff, ein angesagtes High-Tech-Etablissement, als auch für eine Person, die Inhaberin nämlich, die mit ihrem Laden unfassbar viel Geld verdient. Bobby der Bastler und Jack der Hacker, beide genial, sind ein Team. Sie rauben das Chrome aus. Doch das russische Killerprogramm, dass sie dafür einsetzen, ist ein kraftstrotzender Gaul, der mit ihnen durchgeht. Das Chrom ist innerhalb weniger Minuten ruiniert und die Inhaberin ihres Lebens nicht mehr sicher.

Chrome brennt, ist eine Dreiecksgeschichte. Rikki, Bobbys neue Freundin, kann mit Jack mehr anfangen als mit ihm. Das hat Folgen.