Aldos Traum

Aus Kapitel 8 entfernter Part

… Allmählich war der Sturm zum Orkan geworden. Die ganze Nacht über zwang er die Anomalon, mit der schweren See zu kämpfen. Sie war kein übliches Containerschiff. Für Fahrten von Australien nach Europa und zurück war sie ungewöhnlich kompakt, eine Art Feederschiff, wie es für Zubringerdienste zwischen kleineren Häfen eingesetzt wurde. Entsprechend ausgeprägt spürte man den Seegang an Bord.

Aldo träumte:

Die Anomalon schob sich im Sechzig-Grad-Winkel einen unfassbar hohen Wellenberg hinauf und schlingerte mit schwerer Schlagseite auf seinem sprudelnden Rücken wieder hinunter. Aldo sah Elmar auf der Brücke Blut und Wasser schwitzen. Der Kapitän musste all sein Können anwenden, um zu verhindern, dass der Frachter kenterte. Der dicke nautische Wachoffizier Sigi Gabrieli bekniete den Kapitän, den Kurs zu ändern, um das Sturmtief zu umfahren. Doch der dachte gar nicht daran. Sigi zeterte. Er trampelte auf die Holzvertäfelung des Brückendecks – wüste Schimpfwörter des Protestes schreiend.

Den Smutje Chen hatte unerwartet die Seekrankheit ereilt. Das verwunderte, denn er selbst wähnte sich von Geburt an dagegen immun. Verzweifelt kramte er im Apothekenschrank nach der letzten Schachtel Malattivol – fand sie aber nicht. Er kotzte zum wiederholten Male in die Spüle, bis er grün im Gesicht war.

Wieder und wieder krachte der Bug des Bootes auf die Wellen und zerteilte sie wie ein Pflug. Als wäre es geschüttelter Champagner, sprudelten dicke Schaumkronen am Rumpf entlang bis nach Achtern, eine brodelnde Heckwelle hinterlassend.

In der Hoffnung jemand würde ihn erhören und endlich helfen, brüllte der Bootsmann Thárros Theodorakis wie von Sinnen in die Bordsprechanlage: »Ihr Arschgeigen! Wann kommt endlich einer von euch und hilft mir?« Im Frachtraum hatte sich ein Container gelöst. Der donnerte abwechselnd gegen die Bordwand und rutschte zurück gegen andere Container, deren Verankerung gerade eben noch hielt. Der Sturm heulte geradezu infernal. Jedes weitere Geräusch um das hin- und herkrängende Schiff herum, übertönte er spielend.

Die auf dem Hauptdeck verzurrten Container wurden von den Wassermassen der harten Brecher umspült, die immer wieder gegen die Bordwände schlugen und sich Schaumkronen bildend auflösten. Besorgniserregend war auch das Knarzen der beiden mächtigen Ladekräne, deren Arme unter den ständigen Lastwechseln in Rotation zu geraten drohten; was katastrophale Folgen haben konnte.

Lou van Borg, der Leichtmatrose, hatte Probleme, nicht über Bord geschwappt zu werden. Er rechnete fest mit einer Havarie. Deshalb wollte er sichergehen der Erste zu sein, der ins Rettungsboot einsteigt. Mit vier doppelten Palsteks, dem einzigen Seemannsknoten, der ihm seit seiner Ausbildung im Gedächtnis geblieben war, vertaute er sich direkt gegenüber dem grellroten Fallboot zwischen Reling und Ankerkette.

Der Funkoffizier Jacques Bustier war entsetzt über das Chaos, das ihm der schwere Seegang an seinem Arbeitsplatz bereitet hatte. Nach einem außergewöhnlich harten Brecherstoß waren sämtliche Handbücher aus den Regalen gefallen. Nervös, fast panisch, suchte er unter all den Unterlagen und Aktenordnern nach seinem Morsealphabet. Sowohl die Radio- als auch die Satellitenfunkanlage liefen computergesteuert. Beide waren ausgefallen.

Am Maschinenleitstand, im Bauch des Frachters, spielten die Anzeigeinstrumente verrückt. Die Zeiger der Manometer pendelten ausnahmslos im roten Bereich. Warnlampen blinkten. Auf dem Display der Prozesssteuerung wimmelte es von aufpoppenden Fehlermeldungen. Die Maschine lief seit Stunden oberhalb ihres zulässigen Leistungsbereiches. Ohrenbetäubendes Dröhnen. Unheilschwanger auch das Vibrieren der Metallböden und Geländer. Dass der Schiffsdiesel bei dieser Belastung kollabieren würde, war klar. Die Frage war nur wann? Hielt er durch, bis sie dem Sturm entronnen waren?

Wolf Säuble, der deutschstämmige Schiffsingenieur, war schon unter günstigen Bedingungen schwer zu ertragen. Befehlsgeil wie er war, neigte er in Stresssituationen wie diesen dazu, ausfallend zu werden und dabei eklig zu sabbern. Dass seine unflätigen, ja sexistischen Beschimpfungen bei der taffen Bordmechanikerin Stephanie Viper akustisch nicht ankamen, lag am Schalldruck der klackernden Kolben- und Ventilbewegungen. Aber sie kannte ihn lange genug, um seine Vokabeln an dessen Mimik ablesen zu können. Die verschwitzte, ölverschmierte Walküre im Blaumann war muskulös, wasserstoffblond, und trug ihren Undercut steil nach oben geföhnt. Breitbeinig stand sie im Druckschott zur Maschine und zeigte ihrem Chief trotzig den Stinkefinger. Machte sie gerade Anstalten, ihm einen wuchtigen Schraubenschlüssel gegen den Kopf zu schmettern? – War das Schiff schon verloren?

Barack und Angie zumindest, die beiden Bordratten, hatten jede Hoffnung aufgegeben. Wie eine Formation abgeklärter lebensmüder Lemminge stürzte sich die komplette kinderreiche Familie steuerbord durch das Loch der Ankerkette am Bug – in eine ungewisse Zukunft.

Niemand an Bord hatte bemerkt, dass die Anomalon bereits von einer riesenhaften Tsunami-Welle erfasst worden war. Der Frachter war im Begriff, an Land gespült zu werden. Hart setzte er auf Grund. PANG! Als hätte sie ein Helicopter gerettet und über der ausgetrockneten Wüste fallen lassen, stoben hohe Staubfontänen links und rechts an den dunkelgrünen Bordwänden empor. Die eben noch durchnässte Truppe parasitärer Nager fiel in den mit buntem Plastikmüll übersäten Sand, rollte eine steile Düne hinunter – in eine Kuhle aus trockenem Sand– und sah nun aus wie ein zappelndes Häufchen panierter Wollwürste.

An dieser Stelle tauchte Aldo aus seinem langen Tiefschlaf auf. Er öffnete vorsichtig die Augen und starrte benommen an die Deckenverkleidung, die er mit ausgestrecktem Arm hätte berühren können. Er fühlte wie seine Fingerkuppen die spartanische Matratze berührten. Sein Shirt, das Laken und seine Bettdecke waren patschnass geschwitzt …